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Für mein Studium der Europäischen Ethnologie an der Universität Wien habe ich im Sommersemester 2022 einen Soundscape erstellt und bin der Frage nachgegangen «Welchen Einfluss hat der Sound der Herstellung auf die Qualität eines Kleidungsstückes?». Mit der Lehrveranstaltungsleiterin habe ich abgesprochen, dass ich den entstandenen Soundscape und die Forschungsergebnisse in diesem Beitrag  veröffentliche.
Zunächst werde ich die Arbeitsschritte, die zur Herstellung eines maßgeschneiderten Kleidungsstückes führen, beschreiben und die erzeugten Klänge und Materialitäten der einzelnen Arbeitsschritte untersuchen. Ich werde veranschaulichen, welcher Erkenntnisgewinn aus dem Soundscape der Herstellung eines Kleidungsstückes seitens der Kulturwissenschaften gezogen werden kann. Ziel ist es, aufzuzeigen, welches Potential eine kulturwissenschaftliche Klangforschung als kulturelles und soziales Phänomen der Herstellung von maßgeschneiderten Kleidungsstücken hat.
Im Rahmen meiner Forschung nehme ich Geräusche auf, die bei der Fertigung eines maßgeschneiderten Kleidungsstückes entstehen. Ich beschreibe und analysiere die aufgenommenen Laute und frage danach, welche Rolle Sound in Bezug auf die Qualität des gefertigten Kleidungsstückes spielen.
Meine Erhebungen fanden mittels Earstorming der Arbeitsschritte (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 358), Tonaufnahmen und Notizen statt, die unmittelbar nach der Entstehung im Verfahren der «dichten Beschreibung» nach Clifford Geertz zu Feldnotizen verarbeitet wurden (vgl Schmidt-Lauber 2007, 238). Die Technik des Earstormings beschreibt Oehme-Jüngling  als „eine erste, das heißt noch nicht zielgerichtete Erfassung des klanglichen Feldes, das untersucht werden soll“ (Oehme-Jüngling 2014, 358). Dabei ginge es darum, sich auf den Hörsinn und alle wahrnehmbaren akustischen Manifestationen in dem Soundscape zu konzentrieren (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 358). So habe ich in einer ersten Phase die Geräusche, die in meinem Atelier entstehen, zunächst bewusst wahrgenommen und die einzelnen Arbeitsschritte erfasst. „Feldaufnahmen sind eine unerlässliche Datenquelle für die Klangforschung, ermöglichen sie doch die Vermittlung eines komplexeren Ausschnitts des akustischen Geschehens“ (Oehme-Jüngling 2014, 360). In einer zweiten Phase wurden alle Arbeitsschritte eines maßgefertigten Kleidungsstückes von mir mit einem iPhone 11 Pro mit dem Betriebssystem 15.5 mit der Videoaufnahmefunktion in der App «Photos» einzeln aufgenommen und im direkten Anschluss an die Aufnahmen zu dicht beschriebenen Feldnotizen verarbeitet. Für die Erstellung des Soundscape wurden die Tonspuren der aufgenommenen Videos im Programm Audacity 2.4.2 zu einer Klanglandschaft zusammengeführt. Über eine Methodentriangulation (Flick 2011) von Earstorming, Aufnahmen und dicht beschriebenen Feldnotizen sammelte ich empirisches Material. Bei der Auswertung der Feldaufnahmen konzentrierte ich mich auf die Lautstärke, die die Klänge der Herstellung von maßgeschneiderten Kleidungsstücken erzeugen (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 360).
Oehme-Jüngling  beschreibt, dass Hören nicht nur auf dem Hörsinn und der Erfassung physikalischer Reize basiere, sondern auch auf Hörerfahrungen, die sich Menschen im Verlaufe ihres Lebens aneigneten und durch die Umwelt sozialisiert seien. (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 352). So werden die erzeugten Klänge und Materialitäten der einzelnen Arbeitsschritte aus der Perspektive einer Kleidermacherin beschrieben und hinsichtlich der Fragestellung untersucht.
Im Vorfeld jeder Anfertigung gibt es eine ausführliche Besprechung, bei der auch das Maßnehmen stattfindet. Diese Vorarbeit ist eine grundlegende Voraussetzung, die vor Beginn einer Anfertigung steht.
Die eigentliche Handwerktsarbeit beginnt mit der Schnittaufstellung, die händisch stattfindet. Auf Packpapier wird unter zu Hilfenahme von Bleistift, Geodreieck, Kurvenlineal und Maßband anhand der gemessenen und berechneten Maße ein Schnitt gezeichnet. In meinem Soundscape befinden sich diese Klänge von 0:00 bis 0:15. Nach der Schnitterstellung werden die Schnitteile mit einer Papierschere ausgeschnitten (Soundscape 0:15 bis 0:42) und mit Stecknadeln auf dem Stoff befestigt (Soundscape 0:42 bis 1:07), aus dem das Kleidungsstück gefertigt wird. Es folgt das Bezeichnen der Nahtzugaben, die bei handgefertigten Schnitten manuell zugegeben werden. Hierfür wird in der klassischen Schneiderei spezielle Schneiderkreide verwendet, die eine Markierung am Stoff hinterlässt (Soundscape 1:07 bis 1:41). Es folgt der Zuschnitt mit einer schweren Stoffschere. Für den Soundscape habe ich das Modell einer Schneiderschere verwendet, das zur Gänze aus Metall gefertigt ist und dessen Schneideblätter eine Länge von 12 Zoll haben (Soundscape 1:41 bis 2:08). Nach den bisher beschriebenen Arbeitsschritten erfolgt in weiterer Folge der Einsatz von Maschinen mit strombetriebenem Motor. In meinem Atelier verwende ich eine Vielzahl von unterschiedlichen industriellen Maschinen, die in der Umgangssprache alle als Nähmaschinen bezeichnet werden, sich aber durch die Sticharten, die die einzelnen Maschinen unterschiedlich bilden, voneinander unterscheiden. Die Maschine, die ich am häufigsten benutze, ist ein Schnellnäher (Modell Juki CP-180) zum Steppen von Nähten. Ein Transporteur schiebt den Stoff unter dem Füßchen durch und eine Nadel führt den Faden durch das Gewebe. Die dabei entstehenden Stiche bilden eine Naht, die zwei Stofflagen miteinander verbindet (Soundscape 2:08 bis 2:40). Nach dem Steppen werden die Nähte gebügelt. Das Bügeleisen (Modell der Firma Trevil Professional F004), das ich in meiner Werkstätte verwende, ist mit einem Dampfkessel (Dampferzeuger Modell der Firma Trevil HS-KM5), der einen 5 Liter Wassertank hat, verbunden und stößt Dampf mit etwa 3-4 Bar aus (Soundscape 2:40 bis 3:08). Dadurch wird das bearbeitete Material zusätzlich geglättet. Die verwendete Bügelanlage (Modell der Firma Trevil Bügeltisch HS-BAB) beheizt einerseits die Fläche des Bügeltisches mittels Heizplatte andererseits saugt sie den vom Bügeleisen abgegebenen Dampf ab (Soundscape 3:08 bis 3:37), wenn dies durch die Betätigung eines Pedales veranlasst wird, mit dem Ergebnis, dass die bearbeitete Stofffläche trotz des verwendeten Dampfes trocken und kühl ist. Ist der Wassertank des Dampferzeugers leer, wird ein Warnsignal abgegeben (Soundscape 3:37 bis 3:49). Nach einer Periode des Abkühlens und nachdem der verbliebene Druck abgelassen wurde, kann Wasser in den Tank nachgefüllt werden (Soundscape 3:49 bis 4:14). Die Arbeitsschritte des Steppens mittels Schnellnähers und des Bügelns mit der Dampfbügelanlage werden wechselweise durchgeführt. Im Verfahren der Arbeitsprozessoptimierung werden die Nahtzugaben versäubert, sobald alle Nähte fertig verarbeitet sind. Hierfür bediene ich in meiner Schneiderei einer Overlock (Modell Juki MO-6814S), die die Nahtzugaben überwendelt und gleichzeitig  mit einem eingebauten Messer überstehende Fasern abtrennt (Soundscape 4:14 bis 4:44). Den Anfertigungsprozess beschließen etwaige Handarbeiten, wie zum Beispiel das Einnähen eines Firmenlogoetikettes oder handgenähte Knopflöcher (Soundscape 4:44 bis 5:23).
Die Laute, die ich in meinen Aufnahmen wahrnehme, lassen sich nach Oehme-Jüngling  in die Kategorien „Natürliche Laute“, hier Laute der Luft (leichte, säuselnde Briese) und Tierlaute (Vogelgezwitscher, Schritte meines Hundes), „Mechanische Laute“, ich nehme eine Form von Kratzen wahr, während der Bleistift über die Oberfläche des Papieres beim Schnittzeichnen gleitet, eine Form von Klopfen, wenn die Nadel der Nähmaschine durch den Stoff gleitet, eine Form von Zischen, wenn das Bügeleisen Dampf ausstößt und eine Form von Brummen, wenn bei dem Bügeltisch das Pedal zur Absaugung betätigt wird, und „Zeigelaute“ einteilen, wenn der Dampferzeuger durch ein durchgehendes, lautes, akustisches Signal vermittelt, dass Wasser nachzufüllen ist (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 361). Nach Oehme-Jüngling begreife ich mich dabei selbst als Teil der akustischen Umwelt und mache die Mensch-Klang-Beziehungen im Soundscape sichtbar (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 359). Die Wahrnehmerin,  Auslöserin und gleichzeitig auch die Erzeugerin der Klänge der einzelnen Arbeitsschritte zur Herstellung eines maßgefertigten Kleidungsstückes bin ich, denn ich führe mit meiner Hand den Bleistift, der die Linie der Schnittkonstruktion entstehen lässt, ich halte und bewege die Schere, die den Stoff zuschneidet, ich bediene das Pedal, das den Antrieb des Schnellnähers und der Overlock auslöst. Oehme-Jüngling stellt in ihrem Beitrag außerdem die Frage „Wie werden die dokumentierten Klänge von den Forscher*innen oder Informant*innen wahrgenommen?“ (Oehme-Jüngling 2014, 362).
Welcher Erkenntnisgewinn kann nun aus dem Soundscape der Herstellung eines Kleidungsstückes seitens der Kulturwissenschaften gezogen werden? Oehme-Jüngling konstatiert, dass beim Hören akustische Reize physikalisch erfasst und  gemäß unseren Hörerfahrungen eingeordnet und (neu) gedeutet werden (vgl. Oehme-Jüngling 2014, 352). Wie meine „akustische Manifestation“ ( Oehme-Jüngling 2014, 354) zeigt, sind alle Arbeitsschritte in ihrer akustischen Differenzialität verhältnismäßig leise. Gleichzeitig ist die Qualität der Ausführung und die damit verbundene Haltbarkeit der Kleidungsstücke sehr hoch. Daraus herleitend konstatiere ich für die Herstellung von Kleidungsstücken die These «less noise equals higher quality». Dies verdeutlicht meiner Meinung nach, welches Potential eine kulturwissenschaftliche Klangforschung als kulturelles und soziales Phänomen der Herstellung von maßgeschneiderten Kleidungsstücken hat.

Literaturverzeichnis

Bijsterveld, Karin: Listening to Machines/ Industrial Noise, Hearing Loss and The Cultural Meaning of Sound. in: Sterne, Jonathan: The Sound Studies Reader, New York: Routledge. 2012. MedieKultur 30, no. 57 (2014), 152-167.

Oehme-Jüngling, Karoline: Auditive Feldforschung. in: Bischoff, Christine ; Oehme-Jüngling, Karoline ; Leimgruber, Walter. Methoden der Kulturanthropologie, 2014, 351- 365.

Schmidt-Lauber, Brigitta: Feldforschung. Kulturanalyse durch teilnehmende Beobachtung. In: Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2007, 219–248.

Flick, Uwe. Triangulation : Eine Einführung. 3., aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden, 2011.